Ulrike Küsters (Dipl.-Geol) – Universitätsbibliothek Tübingen, IT-Abteilung, Leitung Open Science Research Publishing
Beruflicher Hintergrund & Werdegang.
Mein Weg in die Bibliothekswelt begann eher nebenbei – und erschließt sich für mich eigentlich erst im Rückblick. Während meines Geologiestudiums an der RWTH Aachen suchte ich früh nach einem Hiwi-Job, um mein BAföG aufzubessern. Ich fand ihn in der Institutsbibliothek des Geologischen Instituts – überraschend nicht betreut von einer klassischen Bibliotheksstelle, sondern vom Professor für Regionale und Historische Geologie. Ein ungewöhnlicher Tausendsassa: „Selfmade Librarian“, Autor, Organisator, Netzwerker. Er unterstützte Heimatvereine und Gemeinden bei der Gestaltung von Besucherbergwerken und montanhistorisch bedeutsamen Orten – ein früher Vorläufer dessen, was man heute vielleicht als Citizen Science beschreiben würde. Ich organisierte Exkursionen, arbeitete in der Bibliothek, übernahm das Korrektorat seiner Publikationen – und entwickelte dabei ein Gespür für das, was man heute als Metakompetenz beschreibt: organisieren, redigieren, publizieren, informieren.
Zum Studienabschluss gelang mir ein einjähriger Aufenthalt am Imperial College London im Rahmen eines Sonderkonstrukts zwischen deutschem Diplom und britischem Master. Eine Promotion war danach aus finanziellen Gründen erst mal keine Option. Stattdessen begann ich in einem Ingenieurbüro – formal selbstständig, faktisch abhängig beschäftigt. Damals war der rechtliche Schutz vor Scheinselbstständigkeit noch lückenhaft. Ich orientierte mich neu und absolvierte eine IT-Ausbildung zur zertifizierten Datenbankentwicklerin und Webprogrammiererin. Damit öffnete sich der IT-Arbeitsmarkt der frühen 2000er – u. a. mit einer Station in der R&D-Abteilung des Ericsson Eurolab. Einige Jahre später wechselte ich als Internet- und Informationsredakteurin in die Bibliothek der Philips Forschungslabore Aachen & Eindhoven. Dort arbeitete ich an Themen rund um Laborpublikationen, Verlagsverträge, Patentschutz und betreute neben dem Intranet ein hausinternes Publikationsrepository – technisch innovativ und seiner Zeit voraus. In dieser Phase wurde mir klar: Informationsstrukturen und Publikationskultur sind zentrale Bestandteile moderner Wissenschaft – und bibliothekarisch arbeitende Menschen werden überall gebraucht, ob in Universitäten oder in der Industrieforschung, ob organisatorisch in einer IT-Abteilung angesiedelt oder in einer Bibliothek. Entscheidend ist nicht, wo die Funktion verortet ist, sondern dass sie da ist – als gestaltende, verlässliche und strukturierende Kraft im Hintergrund.
2009 wechselte ich ans Fraunhofer-Informationszentrum Raum und Bau IRB nach Stuttgart. Über 15 Jahre hinweg baute ich ein kleines Team zu einer servicestrategischen Unterstützungseinheit für die gesamte Fraunhofer-Gesellschaft aus – brachte die Open-Access-Policy mit auf den Weg; später kamen Themen wie Forschungsdatenmanagement, Forschungsinformationssysteme, Bibliometrie sowie die kontinuierliche Beratung zur Publikationspraxis hinzu. Diese Beratungsfunktion wurde mit der Zeit immer facettenreicher: Sie richtete sich längst nicht mehr nur an einzelne Publizierende, sondern zunehmend auch an Entscheidungsträger:innen in den Managementebenen der Institute. Fragen nach Sichtbarkeit, Compliance, Infrastrukturwahl oder Kostensteuerung machten deutlich: Publikationsberatung ist heute immer auch ein Einstieg und strategisches Element des Wissenschaftsmanagements – und damit zentraler Bestandteil moderner bibliothekarischer Arbeit.
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Bildnachweis Beitragsbild Ulrike Küsters: © Lorenz Leins, UB Tübingen
Persönliche Erfahrungen.
Besonders spannend an dieser Position bei Fraunhofer war für mich die Möglichkeit, mich mit anderen Organisationen zu vernetzen – und dabei auch viel von ihnen zu lernen. In Arbeitsgruppen von DINI, der Allianz der Wissenschaftsorganisationen oder den NFDI-Konsortien erlebte ich, wie intensiv der Austausch zwischen wissenschaftlichen Bibliotheken in Deutschland tatsächlich gelebt wird. Open-Access-Tage, Biblio-Con: Ich schnupperte immer tiefer in die Bibliothekswelt hinein – und merkte bald, dass hier nicht nur Informationen, sondern auch Erfahrungswissen, Prinzipien und Strategien geteilt werden. Die Offenheit, mit der sich Kolleg:innen über AGs, Vereinigungen und Netzwerke verbinden, hat mich stark beeindruckt – und meine Vorstellung von bibliothekarischer Arbeit – und von Open Science – nachhaltig geprägt.
Seit März 2025 bin ich nun wirklich in der Bibliothek angekommen: Die Ausschreibung zur „Open-Science-Managerin“ an der Universitätsbibliothek Tübingen klang wie für mich gemacht. Ich bin nun an einem Ort mit beeindruckender fachlicher Vielfalt und hoher Spezialisierung tätig – und arbeite an der Schnittstelle zwischen individuellen Bedarfen, digitaler Infrastruktur und strategischen Zielen.
Was ich an der Arbeit in der Bibliothek besonders schätze, ist die Verbindung aus inhaltlicher Tiefe, strategischem Denken und – ja – einer gewissen stillen Meisterschaft: Vieles, was funktioniert, beruht auf unsichtbarer Expertise. Hier werden Infrastrukturen erschaffen, die individuell, zuverlässig und anschlussfähig sind – und im Idealfall so selbstverständlich wirken, dass sie gar nicht weiter auffallen.Oder wussten Sie, dass es in bestimmten Fachdisziplinen nur durch maßgeschneiderte Sonderprogrammierung möglich ist, in einem Repository wie dem ixtheo gezielt nach feministischer, katholischer Literatur zu suchen – oder sogar nach einzelnen Bibelstellen? Solche Anforderungen lassen sich mit Standardsoftware nicht abbilden. Sie erfordern nicht nur technisches Fingerspitzengefühl, sondern auch ein tiefes Verständnis für die Denk- und Arbeitsweisen der jeweiligen Fachcommunities – und die Fähigkeit, daraus passgenaue Lösungen zu entwickeln. Genau darin liegt für mich die besondere Qualität bibliothekarischer Arbeit.
Besonders faszinierend finde ich, wie unterschiedlich die Fachcommunities ticken: Ob Geologie, Theologie, Altägyptologie oder Rhetorik – jede Disziplin hat ihre eigenen Vorstellungen davon, was gute Informationsversorgung bedeutet, was offen oder geschützt sein soll, und wie mit Wissen umgegangen wird. Daraus ergeben sich Aufgaben, die sich mit Standardlösungen oft nicht bewältigen lassen. Was auf den ersten Blick nach reibungslosen Services aussieht, verlangt in Wirklichkeit ein hohes Maß an Fachkenntnis, Übersetzungsleistung und technischer Feinarbeit – und das Zusammenspiel vieler „Bibliotheksgewerke“. Genau hier wird die Bibliothek zum Möglichkeitsraum – und das macht unsere Arbeit so spannend.
Sinnstiftung & Mehrwert.
Und wie „managt“ man nun eigentlich Open Science? Diese Frage führt mitten hinein in Spannungsfelder, die weit über Repositorien und Open-Access-Lizenzen hinausgehen. Mein persönlicher Hashtag des Grauens ist derzeit wohl #Open_Science_in_a_closing_world – das klingt paradox, aber es wird leider bittere Realität. Wissenschaftliche Offenheit muss heute nicht nur gestaltet, sondern zunehmend aktiv verteidigt werden. Denn wir erleben weltweit eine politische und gesellschaftliche Entwicklung, in der autoritäre Regime erstarken, Diskurse eingeschränkt und persönliche und wissenschaftliche Freiheit unter Druck gesetzt wird – sei es durch Zensur, Einflussnahme oder ökonomische Vereinnahmung. In diesem Umfeld ist Open Science keine neutrale Infrastrukturfrage mehr, sondern immer auch ein Statement : „Offenheit“ braucht Bedingungen. Sie braucht Infrastrukturen, die nicht aufgekauft, nicht vereinnahmt werden können. Sie braucht einen Code der gegenseitigen Unterstützung – und die Fähigkeit, Öffnung mit Verantwortung zu verbinden. Nachhaltigkeit heißt heute auch: Schutz vor Übernahme. Schutz vor der schleichenden Abhängigkeit von wenigen, marktbeherrschenden Lösungen.
Zwischen Science Diplomacy, strategischen Allianzen und der Frage, wie wir souveräne, verlässliche und nicht vereinnahmbare Infrastrukturen aufbauen, steht viel auf dem Spiel. Wer Open Science wirklich ernst nimmt, muss heute auch Haltung zeigen – gegen das Schließen von Räumen, gegen den Verlust von Teilhabe und gegen die politische Instrumentalisierung von Wissen.
Genau hier sehe ich meine Aufgabe: nicht in der reinen Abwicklung von Publikationsfonds – so wichtig diese für den Forschungsalltag sind – sondern in der Gestaltung von Rahmenbedingungen, die Offenheit möglich und verantwortbar machen. Die Herausforderung besteht darin, digitale Souveränität zu wahren, heterogene Systeme zu koordinieren und fakultätsübergreifend tragfähige Services zu entwickeln – auch im Lichte der Exzellenzstrategie einer Universität, die international Maßstäbe setzen will.An dieser Schnittstelle bringe ich nicht nur Erfahrung ein – sondern auch Überzeugung.
Hinzu kommt: die Stärkung eines kleinen, engagierten Teams innerhalb einer Organisation, die selbst unter steigendem Erwartungsdruck zu stehen scheint. Wo der Glaube wächst, dass Exzellenz zwangsläufig mit immer mehr Fördermitteln belohnt wird, wird schnell übersehen, wie knapp die „Human Ressources“ tatsächlich sind – und wie stark solche Narrative auch belasten können. Mittel sind immer knapp. Was es braucht, ist nicht nur Struktur, sondern auch Entwicklung, Kultur – und die Bereitschaft zur gemeinsamen Verantwortung im Team. Gerade in solchen Spannungsfeldern wird oft schnell deutlich, worauf es wirklich ankommt: Orientierung, Verlässlichkeit – und die Fähigkeit, trotz Gegenwind die Richtung zu halten.
Manchmal erinnert mich das an unsere romantischen Vorstellungen von Leuchttürmen: Majestätisch, einsam, Orientierung spendend – ein Symbol für Weitblick. Doch der Zweck eines Leuchtturms ist kein Idyll. Er steht nicht für Ruhe, sondern für Alarm. Er soll Schiffe vor dem Kentern und Menschen vor dem Ertrinken bewahren. Eine Institution, die wirklich Strahlkraft entfaltet, tut das nicht als glattes Bild – sondern indem sie in Bewegung bleibt, Signale sendet und in der Lage ist, bei Sturm Orientierung zu bieten. Auch das ist Bibliotheksarbeit im besten Sinne.
Empfehlungen.
Warum würden Sie anderen Menschen empfehlen, in der Bibliothek zu arbeiten?
Weil Bibliotheken heute viel mehr sind als Bücher und Datenbanken – sie sind strategische Möglichkeitsräume, die Orientierung bieten in einer Welt, die zunehmend unübersichtlich wird. Wer sich für dieses Arbeitsfeld entscheidet, arbeitet nicht nur mit Wissen, sondern an Strukturen, an Verantwortung, an Zukunftsfähigkeit. Bibliotheksarbeit ist heute ein Ort, an dem Haltung gefragt ist – und Gestaltungswille.
Haben Sie persönliche Empfehlungen oder Ratschläge für diejenigen, die sich für eine Karriere in der Bibliothek interessieren?
Das kommt natürlich ganz auf Sie an: Suchen Sie den Einstieg dort, wo es um echte Herausforderungen geht – wo heterogene Systeme zusammengeführt, digitale Souveränität verteidigt und fakultätsübergreifend tragfähige Services gestaltet werden müssen. In einer Organisation, die international Maßstäbe setzen will, ist das keine Nebenaufgabe. Genau an dieser Schnittstelle kann man mitdenken, mitlenken – und wachsen.Gleichzeitig sind Bibliotheken auch Orte, an denen Vielfalt gelebt werden kann – fachlich, biografisch und menschlich. Sie bieten oft Raum für andere Perspektiven: für Menschen mit unkonventionellen Lebensläufen, für neurodivergente Kolleg:innen oder solche, die ihre Stärke eher in der Tiefe als im Rampenlicht entfalten. Bibliotheken funktionieren nicht über Lautstärke, sondern über Substanz – das macht sie zu wertvollen Arbeitsorten für viele, die in anderen Kontexten weniger gesehen werden.
Welche spezifischen Fähigkeiten oder Qualitäten sind Ihrer Meinung nach wichtig, um erfolgreich in diesem Berufsfeld zu sein?
Technisches Verständnis und strategisches Denken sind wichtig – aber mindestens genauso bedeutsam sind systemisches Arbeiten, kommunikative Übersetzungsfähigkeit und ein Sinn für das Zusammenspiel im Team. Gerade weil Bibliotheken heute viele zukunftsgerichtete Aufgaben übernehmen, wachsen Auftragslage, Taktung und Komplexität häufig schneller als die verfügbaren Ressourcen. Was es dann braucht, ist nicht nur Struktur, sondern auch Entwicklung, Kultur – und die Bereitschaft, Verantwortung gemeinsam zu tragen.
Welche Rolle spielen Teamarbeit und Kommunikation in Ihrer täglichen Arbeit?
Eine entscheidende. Ich arbeite in einem kleinen, hochengagierten Team – und in einer Organisation, die selbst unter wachsendem Erwartungsdruck steht. Ohne Kommunikation, ohne Koordination, ohne gemeinsames Verständnis geht nichts. Bibliotheken sind keine Leuchttürme der Selbstgenügsamkeit. Sie leuchten nicht, um schön auszusehen oder Lust auf Bierkonsum zu erzeugen. Sie sind dafür da, Orientierung zu bieten – besonders dann, wenn es stürmt.
Was auf den ersten Blick nach reibungslosen Services aussieht, verlangt in Wirklichkeit ein hohes Maß an Fachkenntnis, Übersetzungsleistung und technischer Feinarbeit – und das Zusammenspiel vieler „Bibliotheksgewerke“. Genau hier wird die Bibliothek zum Möglichkeitsraum – und das macht unsere Arbeit so spannend.